Auf dem »Materialauge« blind

Auf dem »Materialauge« blind

Foto: Tobias | Unsplash

Oliver Richters und Andreas Siemoneit
ZOE. Institut für zukunftsfähige Ökonomien
Level: leicht
Perspektive: Ökologische Ökonomik
Thema: (Post-)Wachstum, Ungleichheit & Klasse, Innovation & Technologie, Arbeit & Care, Ressourcen, Umwelt & Klima
Format: Essay

Die Materialvergessenheit der Wachstumstheorie

Seit Jahrzehnten wird über ökologische Grenzen des Wachstums und nachhaltige Entwicklung diskutiert. Man sollte also annehmen, dass Themen wie Rohstoffgewinnung oder Flächenverbrauch eine wichtige Rolle in der ökonomischen Wachstumstheorie spielen. Die Ökonomik ist jedoch auf dem »Materialauge« weitgehend blind und setzt einfach darauf, dass ressourcenschonendes Wachstum möglich ist, frei nach dem Motto: was sich denken lässt, lässt sich auch umsetzen.

           


Dieser Artikel wurde auf Agora42 erstveröffentlicht.
In der Kolumne Jenseits von Angebot und Nachfrage nehmen Autor*innen aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik die fachlichen Scheuklappen der Lehrbuchökonomie ab und werfen einen pluralökonomischen Blick auf gesellschaftspolitische Fragestellungen.


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Seit den 1950er-Jahren erkannte die ökonomische Wachstumstheorie, dass es für stetiges Wirtschaftswachstum nicht ausreicht, einfach mehr und mehr Kapital (Maschinen, Gebäude, Fahrzeuge usw.) einzusetzen. Stattdessen wurde die Bedeutung des technischen Fortschritts betont und zumeist mit verbesserter Bildung oder gesteigertem Wissen erklärt (»Humankapital«). Wurde zu Beginn der Industriellen Revolution Technik genutzt, um schwere körperliche Arbeit zu ersetzen, wurde Technologie mit der Zeit feiner, vernetzter, elektronischer. Aber das Grundprinzip blieb gleich: Trotz hoher Investitionen waren Maschinen billiger als Menschen, zumal sie zunehmend Arbeitsschritte verrichten konnten, die Menschen überfordern.

1 Prozent Inspiration und 99 Prozent Extraktion

Dies löste eine interessante Dynamik aus, die der Ökonom Joseph Schumpeter euphemistisch als »schöpferische Zerstörung« bezeichnete. Mit jeder erfolgreichen Rationalisierung menschlicher (oder tierischer) Arbeit wurden alle Konkurrent*innen gezwungen, ebenfalls zu investieren, denn sonst waren sie zu teuer. Dem Wirtschaftswachstum liegt ein technologischer »Wachstumszwang« für jedes einzelne Unternehmen zugrunde. Die Alternative zu Wachstum ist nicht Konstanz, sondern Untergang, und gerade aus marxistischer Perspektive wird die »Konkurrenzlogik« des Kapitalismus angeprangert. Es ist aber weniger eine Konkurrenz- als eine Verbrauchslogik.

Mit dem Fokus auf Arbeit, Kapital und Ideen wurde die Rolle natürlicher Ressourcen von der Wachstumstheorie glatt übersehen. Entscheidend ist, dass Maschinen zwar auf der Basis von »Ideen« konzipiert, aber aus sehr physischen Materialien hergestellt werden und nur mit der entsprechenden Antriebsenergie funktionieren. Die menschlichen Einfälle konzentrieren sich systematisch auf die ressourcenintensive Steigerung von Effizienz in allen Bereichen, vor allem im Sinne der Kostensenkung: in der Produktion, beim Transport, in der Datenverarbeitung, bei Dienstleistungen. Kosteneffizienz ist jedoch nicht Materialeffizienz. Ein Traktor ist also nicht einfach nur »ideenreicher«, sondern vor allem auch verbrauchsintensiver als ein Ochsengespann, aber gemessen an seiner Leistung billiger, und die ökonomische Lektion lautet: Man kann Rohstoffe als Naturleistungen gezielt im ökonomischen Prozess zum eigenen Vorteil einsetzen.

Entsprechend werden täglich weltweit über 150 Millionen Tonnen Material in den ökonomischen Kreislauf eingespeist, der aus diesem Grund wachsen kann. In Anlehnung an das bekannte Zitat des Erfinders Thomas Alva Edison könnte man ironisch sagen: »Innovation ist 1 Prozent Inspiration und 99 Prozent Extraktion.« Die hohe ökonomische Bedeutung von Rohstoffen in Verbindung mit der oben beschriebenen Wettbewerbsdynamik kann erklären, warum es seit Jahren nicht gelingt, jenes verheißungsvolle »Grüne Wachstum« zu erreichen, das ein decoupling (Entkoppelung) von Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung verspricht. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen spricht inzwischen sogar von recoupling, weil der Materialverbrauch schneller wächst als die Wirtschaftsleistung.

Mehr verdient, wer mehr verbraucht

Warum setzt man dann überhaupt weiter auf Wachstum? Das Problem ist, dass diese Dynamik gewissermaßen eine Lücke in unserem Gerechtigkeitsempfinden ausnutzt. Einerseits definiert in Marktgesellschaften »der Markt«, was als ökonomische Leistung gilt, und dementsprechend werden Löhne und Umsätze zu jenen gelenkt, die das beste Preis-Leistungs-Verhältnis bieten. Man bezeichnet das als Leistungsprinzip, und es ist an sich eine gute und gerechte soziale Norm. Andererseits können Preis-Leistungs-Verhältnisse durch Technik massiv verbessert werden. Das Leistungsprinzip »Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen« lautet in der Realität eher »Es verdient mehr, wer natürliche Ressourcen marktgerechter verbraucht«. Die Einkommensverteilung ist systematisch zugunsten jener verschoben, die Technik entwickeln, einsetzen oder finanzieren. Mit technischen Produkten und Dienstleistungen werden weniger die Leistungen der entsprechenden Menschen am Markt angeboten, als vielmehr der Brennwert von Erdöl, die Festigkeit von Stahl, die Leitfähigkeit von Kupfer und so weiter.

Mit Wachstum versuchen Regierungen letztlich, die laufend wegfallenden Arbeitsplätze (»technologische Arbeitslosigkeit«) zu kompensieren. Einige fordern daher eine »Überwindung« des Leistungsprinzips durch eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung oder ein Bedingungsloses Grundeinkommen. Sie verkennen jedoch die fundamentale Bedeutung des Leistungsprinzips als Gerechtigkeitsnorm. Es ist nur eine andere Formulierung der sozialen Norm der Gegenseitigkeit (Reziprozität), der »Grundwährung allen Soziallebens« (Jonathan Haidt).

Die Kosten-Nutzen-Rechnung vervollständigen

Der Weg in eine nachhaltige Gesellschaft führt nur über eine Verringerung des Rohstoffverbrauchs. Hierfür benötigen wir eine gezielte Rohstoffpolitik, die dem Verbrauch aktiv Grenzen setzt, ähnlich wie es für CO2-Emissionen mit dem Emissionshandel versucht wird. Unter einer institutionellen Verbrauchsdeckelung müsste sich der technische Fortschritt erstmals einer vollständigen Kosten-Nutzen-Rechnung stellen. Wenn man den Befürworter*innen »Grünen Wachstums« und der herkömmlichen Wachstumstheorie Glauben schenken darf, wird er diese Prüfung glänzend bestehen. Wir sind skeptisch, aber die gute Nachricht ist, dass weder Euphorie noch Skepsis für die Umsetzung dieser Maßnahme eine Rolle spielen. Die Verringerung des Rohstoffverbrauchs ist eine objektive Notwendigkeit und keine Frage der Perspektive, und man kann damit nicht nur ökologische Nachhaltigkeit, sondern auch mehr ökonomische Stabilität und soziale Gerechtigkeit erreichen, indem technologische Arbeitslosigkeit verringert wird.

Diese Gedanken stammen aus Oliver Richters und Andreas Siemoneit: Marktwirtschaft reparieren: Entwurf einer freiheitlichen, gerechten und nachhaltigen Utopie (oekom, 2019). Siehe dazu: www.marktwirtschaft-reparieren.de.


Dr. Oliver Richters hat nach seinem Physik-Studium an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg zu ökonomischen Nichtgleichgewichtsmodellen und Wachstumszwängen promoviert. Er ist Fellow am Institut für zukunftsfähige Ökonomien (ZOE) und als Referent, Science Slammer und Kabarettist tätig. www.oliver-richters.de.

Andreas Siemoneit, Physiker und Wirtschaftsingenieur, arbeitet als Softwarearchitekt und Systemberater in Berlin. Er befasst sich sozialwissenschaftlich mit den anthropologischen Grundlagen von Ökonomie und Politik und ist ebenfalls Fellow am Institut für zukunftsfähige Ökonomien (ZOE). www.effizienzkritik.de.


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Herman E. Daly und Joshua Farley:
Ecological Economics: Principles and Applications (Island Press, 2. Auflage, 2011)
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