Die Rolle von Gender in der Wirtschaft

Alyssa Schneebaum
Wirtschaft neu denken: Blinde Flecken in der Lehrbuchökonomie, 2016
Level: leicht
Perspektive: Feministische Ökonomik
Thema: Race & Gender
Format: Zeitschriftenartikel & Buchbeitrag
Link: http://fgw-nrw.de/fileadmin/user_upload/Blinde_Flecken_der_Lehrbuchoekonomie_klein.pdf

Die Rolle von Gender in der Wirtschaft

Alyssa Schneebaum

Quelle: van Treeck, Till, and Janina Urban. Wirtschaft neu denken: Blinde Flecken in der Lehrbuchökonomie. iRights Media, 2016. Das Buch kann hier bestellt werden: http://irights-media.de/publikationen/wirtschaft-neu-denken/.

 

Rezensierte Bücher:

Samuelson, P.A./Nordhaus, W.D. (2009): Economics, 19. Auflage, New York: McGraw-Hill, 715 Seiten. Im Folgenden zitiert als SNa. (ohne Abb.)

Samuelson, P.A./Nordhaus, W.D. (2010): Volkswirtschaftslehre, 4. Auflage, München: mi-Wirtschaftsbuch, FinanzBuch Verlag, 1104 Seiten. Im Folgenden zitiert als SNb (Abb: mi-Wirtschaftsbuch)

 

Dieser Beitrag diskutiert die Rolle von Gender in wirtschaftlichen Beziehungen, Prozessen und Ergebnissen.1 Genderunterschiede in wirtschaftlichen Daten und Fakten, etwa bei der Erwerbsbeteiligung und den Löhnen, haben in den letzten Jahrzehnten wachsende Aufmerksamkeit von Ökonom_innen erfahren – eine positive und längst überfällige Entwicklung im ökonomischen Denken. Das macht sich beispielsweise darin bemerkbar, dass die meisten Leser_innen wissen werden, dass Männern für die gleiche Arbeit im Durchschnitt mehr bezahlt wird als Frauen. Aber während solche Daten wichtig für unser Verständnis der Wirtschaft und der ökonomischen Lebensverhältnisse von Menschen sind, geht die Rolle von Gender in der Volkswirtschaftslehre (VWL) über eine solche deskriptive Darstellung von gemessenen Unterschieden hinaus. Wir können darüber hinaus Ideen und Erfahrungen in Bezug auf Gender nutzen, um die vielen Mechanismen zu beleuchten, die hinter „der Wirtschaft“ und VWL als Wissenschaft stehen.

Wie Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus (SNa, S. 4, vgl. SNb, S. 24) konstatieren, wird VWL oft verstanden als „die Analyse davon, wie Gesellschaften knappe Ressourcen nutzen, um wertvolle Güter und Dienstleistungen herzustellen und sie zwischen verschiedenen Individuen zu verteilen.“ Diese Definition der VWL erhebt damit einen breiten Erklärungsanspruch: Sie sagt aus, dass die VWL anstrebt zu verstehen, wie und warum verschiedene Menschen und Gruppen in die wirtschaftliche Situation gelangt sind, in der sie sich befinden. Die Definition impliziert weiterhin – da Ökonom_innen ja versuchen das „Wie“ hinter der Allokation von Ressourcen zu verstehen –, dass die VWL helfen kann, ungewünschte Verteilungen zu verändern. Aber wie am Beispiel des Buches von Samuelson und Nordhaus ersichtlich wird, versagt die ökonomische Disziplin manchmal darin, ihr eigentliches, wichtigstes Ziel zu erreichen, nämlich ökonomische Prozesse zu verstehen. Gleichzeitig wird das zweite Ziel, Veränderungen zu ermöglichen, in der Disziplin explizit nicht behandelt. Ein herausstechendes Beispiel der Ignoranz der VWL gegenüber der Produktion und Verteilung wertvoller Güter und Dienstleistungen ist die weitverbreitete Missachtung der Rolle von Gender in der Wirtschaft, was, wie dieser Beitrag aufzeigen wird, ein großes Versagen der Disziplin darstellt. Die feministische Ökonomik ist das Teilgebiet der VWL, das sich am meisten damit beschäftigt, diese Leerstelle zu füllen.

Zentrale Themen der feministischen Ökonomik

Die feministische Ökonomik ist ein Bereich der VWL, der beträchtlichen Auftrieb und Anerkennung in den 1990er und 2000er Jahren erhalten hat, wenngleich die ältesten Arbeiten, die heute als feministische Ökonomik bezeichnet werden können, bis auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Obwohl es praktisch wäre, hier eine klare Definition zu haben, ist es schwierig, feministische Ökonomik auf eine bestimmte Art und Weise zu definieren. Stattdessen stellt dieser Beitrag einige der Hauptthemen der feministischen Ökonomik vor, zeigt wie sie zu einem ganzheitlicheren Verständnis von ökonomischen Prozessen und Ergebnissen beitragen kann und stellt sie den Mainstream-Modellen, die Samuelson und Nordhaus uns präsentieren, gegenüber.

Ein wichtiger Ausgangspunkt für den Großteil feministischen Denkens – die feministische Ökonomik eingeschlossen – ist, die Idee von „Gender“ zu verstehen. Dabei wird zwischen den Kategorien des biologischen „Geschlechts“ (engl.: sex) und dem sozialen „Gender“ (engl.: gender) unterschieden. Der erste Begriff bezieht sich auf die biologischen Unterschiede zwischen Menschen, die im Allgemeinen mit Reproduktion zu tun haben, also zum Beispiel Hormone, Genitalien und innere Fortpflanzungsorgane. Demzufolge gibt es die Kategorien „Männer“ und „Frauen“, bestimmt nach biologischen Eigenschaften. Auf der anderen Seite bezieht sich „Gender” auf die soziale Zuschreibung von Eigenschaften und Kompetenzen aufgrund des biologischen Geschlechts. (Das biologische Geschlecht kann ebenfalls als soziales Konstrukt angesehen werden, aber diese Betrachtung geht über den Rahmen dieses Beitrages hinaus.)

Von Menschen mit weiblichen biologischen Eigenschaften wird zum Beispiel erwartet, dass sie sich auf eine „feminine“ Art und Weise verhalten – eine Definition, die sich zwischen Kulturen und über die Zeit verändert – nur weil sie einige dieser Eigenschaften besitzen (mögen). Demzufolge werden in den modernen westlichen Gesellschaften Frauen als die Hauptverantwortlichen für die Kindererziehung gesehen, während Männer (immer noch häufig) als die Personen gesehen werden, die die finanziellen Ressourcen für die Familie bereitzustellen haben. In einem gewissen Sinne können diese sozialen Erwartungen uns also helfen zu erklären, warum Frauen weiterhin den Großteil der Pflege- und Hausarbeit verrichten, auch wenn sie die gleiche Menge an Erwerbsarbeit leisten wie ihre männlichen Partner.

Die Relevanz von Gender als soziale Kategorie in ökonomischen Prozessen wird nicht ausschließlich von Ökonom_innen behandelt, die ihre wissenschaftliche Arbeit als feministisch bezeichnen; Akerlof und Kranton (2000) zufolge erkennen die meisten Ökonom_innen an, dass Identität eine wichtige Rolle in ökonomischen Entscheidungsprozessen spielen kann (Akerlof/Kranton 2000). Sie setzen ein Konzept von Identität in eine Nutzenfunktion ein und analysieren es innerhalb eines spieltheoretischen Rahmens. Das bescherte ihrem Beitrag mehr Aufmerksamkeit und Akzeptanz in der ökonomischen Disziplin als feministische Ökonom_innen bis zu diesem Zeitpunkt jemals erlangt hatten, obwohl sie Ähnliches über die Rolle von Gender in der Bestimmung von Arbeitsprofilen und anderen ökonomischen Umständen ausgesagt hatten – bereits viele Jahre vor der Publikation von Akerlofs und Krantons Modell. Wir werden später auf diesen Punkt zurückkommen, welche wissenschaftliche Arbeit als „wertvolle“ VWL anerkannt wird.

Gender als eine sozial konstruierte und zugewiesene Kategorie zu verstehen, hilft uns zu erklären, wie ökonomische Entscheidungen und Umstände von den uns zugeschriebenen Erwartungen beeinflusst werden. Wie am Beispiel der Pflegearbeit zu sehen ist, kann der Fakt, dass Männer und Frauen häufig verschiedenen Arten von bezahlter Arbeit nachgehen, besser mit der Brille von Genderrollen verstanden werden. Dass die meisten Ingenieure Männer und die meisten Kindergärtnerinnen Frauen sind, kann nicht komplett mit der Analyse von Märkten, die Arbeit durch den Lohnsatz verteilen, erklärt werden. Wir können stattdessen diese Unterschiede zumindest zum Teil durch die soziale Zuschreibung von genderangemessenen Verhaltensweisen, Interessen und Kompetenzen von Männern und Frauen verstehen.

Ein anderes, frühes Thema in der feministischen Ökonomik war die Kritik, dass Frauen in der ökonomischen Analyse einfach nicht vorkamen. Nicht nur waren nur wenige Frauen als Ökonom_innen tätig, sondern bis in die 1960er Jahre wurden alle ökonomischen Erfahrungen von Frauen größtenteils aus der ökonomischen Analyse ausgeschlossen. Frauen waren keine Agent_innen, die in ökonomischen Modellen untersucht wurden. Zum Teil lag diese Ignoranz der ökonomischen Situationen von Frauen darin, dass „Frauenarbeit“ nicht als wirtschaftlich interessant oder wichtig erachtet wurde. Sie wurde zu der Zeit (und in gewisser Weise auch heute noch) ausschließlich als Haus- und Kindeserziehungsarbeit verstanden. Selbst als der Haushalt – die „Sphäre“ der Frau – durch die „Neue Haushaltsökonomik“ (NHÖ) in den 1960er Jahren zunehmend Beachtung fand, wurden die sozialen und ökonomischen Realitäten der meisten Frauen weiterhin ignoriert. Das geschah dieses Mal mithilfe eines wissenschaftlichen Analyserahmens, welcher Strukturen annahm und unterstützte, die eine schwächere Position von Frauen in der Wirtschaft rechtfertigten und perpetuierten. Insbesondere war ein Hauptthema der Modelle der „Neuen Haushalsökonomik“ eine geschlechterbasierte Arbeitsteilung im Haushalt, in der der Mann der Verdiener von Erwerbsarbeitseinkommen und die Frau für die unbezahlte Haus- und Pflegearbeit zuständig war (es ging dabei immer um heterosexuelle Paare). Dies galt als das effizienteste und damit beste Arrangement, aufgrund des angeblichen komparativen Vorteils der Frau in der unbezahlten Arbeit.

Dieser theoretische Analyserahmen, obwohl er einer der ersten war, der die Existenz von Frauen als ökonomische Agentinnen ins Feld brachte, bietet jedoch nur ein begrenztes Verständnis von der Wichtigkeit von Gender in ökonomischen Prozessen und Resultaten. Insbesondere wird in der NHÖ die Tatsache ignoriert, dass Effizienz in der Produktion nicht das Ziel der meisten Haushalte darstellt. Paare und Familien fällen Entscheidungen über die Arbeitsverteilung häufig aufgrund anderer Faktoren als Nutzenmaximierung, zum Beispiel Vergnügen und Fairness. Zudem perpetuiert und rechtfertigt die NHÖ ein Bild von Familienleben, das nicht für alle Individuen, Paare und Familien gewünscht sein muss. Diese Rechtfertigung wird allerdings wiederum häufig genutzt, um bestimmte Politikansätze zu entwerfen und zu implementieren (wie etwa Gesetze, die längeren Mutterschafts- als Vaterschaftsurlaub ermöglichen), die wiederum die geschlechterbasierte Arbeitsteilung verfestigen.

Die Ignoranz der ökonomischen Disziplin – ein treffendes Beispiel

Ein vielsagendes Beispiel für die Ignoranz der ökonomischen Disziplin gegenüber Frauen und Gender ist das mehr als 700-seitige Buch von Samuelson und Nordhaus (1104 Seiten in der deutschen Fassung), in dem Gender nur in drei kurzen Abschnitten thematisiert wird: im Kontext der Erklärung von Diskriminierung, bei der Thematisierung von Armut sowie bei der Erwerbsbeteiligung. In ihrem Vorwort stellen die Autoren fest, dass das Buch von Millionen von Menschen gelesen wird, die verstehen wollen, wie Wirtschaft funktioniert, und dass es „[s]eit über einem halben Jahrhundert […] schon als Standardlehrbuch [dient], das Studenten in den Vereinigten Staaten und überall auf der Welt in die Volkswirtschaftslehre einführt“ (SNa, S. XVIII; SNb, S. 10). Allerdings trägt die Tatsache, über die spezifische ökonomische Situation der Hälfte der Weltbevölkerung in nur ein paar Abschnitten eines 715-seitigen Buchs zu sprechen, nicht gerade dazu bei, die gesamte Ökonomie zu verstehen. In der ersten ihrer drei Erwähnungen von Gender, in der es um Diskriminierung geht, sagen die Autoren, dass die Diskriminierung von Frauen signifikant zurückgegangen sei und dass ohne den „Familienmalus“ (der durch die Arbeitszeitunterbrechung zustande kommt, in der Menschen – zumeist Frauen – ihren bezahlten Beruf für die Erziehung beziehungsweise Pflege der Kinder, Älteren und Kranken aufgeben), „Frauen heute etwa gleich viel zu verdienen scheinen wie ähnlich qualifizierte Männer“ (SNa, S. 263; SNb, S. 402). Sogar wenn dies statistisch der Fall wäre, wird durch diese Art des Framing der Diskussion der Fakt ignoriert, dass genderbasierte Diskriminierung weiterhin existiert (selbst wenn Samuelson und Nordhaus sagen, dass „Diskriminierung von Frauen […] in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist“, vgl. SNa, S. 328; SNa, S. 402). Das heißt, obwohl sie die gleichen Qualifikationen wie Männer haben – etwa das Gleiche studiert und die gleiche Menge an Arbeitsmarkterfahrung haben –, haben Frauen mit großer Wahrscheinlichkeit Diskriminierungen auf dem Weg zur Erlangung dieser Qualifikationen erfahren.

Im zweiten Beispiel erklären Samuelson und Nordhaus die hohen Frauenarmutsquoten durch das niedrige Lohnniveau von Personen mit geringeren Bildungsabschlüssen. Die Autoren sagen, dass der wichtigste Faktor, um die disproportional hohen Armutsquoten bei Frauen und people of colour in den USA zu erklären „die wachsende Lücke zwischen den Verdiensten von gut ausgebildeten und begabten und weniger begabten und ungebildeten Arbeitern“ sei (SNa, S. 328, vgl. SNb, S. 401–402). Die Begründung ist also, dass Frauen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit in Armut leben, in dieser Position sind, weil sie eine niedrigere Bildung und Begabung besitzen. Allerdings ist der Anteil von Frauen, die einen höheren Bildungsabschluss vorweisen können, in fast allen entwickelten Ländern in den letzten Jahrzehnten stets höher als der der Männer gewesen. Es muss also einen anderen Grund für die hohe Armutsquote von Frauen geben – aber Samuelson und Nordhaus scheinen nicht danach zu suchen. Zuletzt argumentieren die Autoren in ihrer Behandlung der gestiegenen Erwerbsbeteiligung von Frauen im letzten halben Jahrhundert, dass „um eine so tief greifende Verschiebung der Arbeitsmuster erklären zu können, [...] man über die wirtschaftlichen Aspekte hinaus auch soziale Prozesse, die zu einer neuen Einstellung gegenüber der Rolle der Frauen als Mütter, Hausfrauen und Arbeitskräfte geführt haben, berücksichtigen“ muss (SNa, S. 252; SNb, S. 385). Samuelson und Nordhaus belassen die Diskussion dabei und behandeln dieses Thema nicht weiter.

An diesem Fall sehen wir ein deutliches Beispiel dafür, wie die VWL unfähig und/oder nicht willens ist, das „Wie“ zu untersuchen, wie sie es am Anfang versprochen haben: „[Die] Analyse, wie Gesellschaften knappe Ressourcen nutzen, um wertvolle Güter und Dienstleistungen herzustellen und sie unter verschiedenen Individuen zu verteilen.“ Stattdessen scheint die Implikation zu sein, dass wenn ökonomische Modelle es nicht schaffen so etwas wie Erwerbsbeteiligung zu erklären, nicht das Modell verändert werden muss, sondern das Thema nicht zur VWL gehört. Es ist im besten Falle eigenartig, dass ein grundlegendes Lehrbuch der Disziplin behauptet, dass ein Verständnis davon, wie und warum Erwerbsbeteiligung sich verändert hat, kein Teil der VWL ist. Wenn Erwerbsbeteiligung kein Teil der VWL ist, was sollte dann Teil der VWL sein?

Abgrenzung von „Gender Ökonomik“ und feministischer Ökonomik

Der Unterschied zwischen einer reinen Beschreibung von Abweichungen in Bezug auf Gender – die Samuelson und Nordhaus anscheinend vorziehen – und der Untersuchung der Mechanismen, die für die Existenz dieser Abweichungen verantwortlich sind, ist der zentrale Unterschied zwischen dem, was man Genderökonomik nennen könnte, und der feministischen Ökonomik. Erstere bringt Genderaspekte in die VWL, indem sie beispielsweise Unterschiede in der Bezahlung, im Vermögen oder in der Arbeitsmarktpartizipation zwischen Männern und Frauen analysiert. Während die feministische Ökonomik die Anerkennung von genderspezifischen Unterschieden in der Wirtschaft sicherlich gutheißt, besteht ein wichtiges Ziel von feministischer Ökonomik darin zu versuchen, die Analyse weiterzutreiben. Anders als Samuelson und Nordhaus, die sagen, dass man um geschlechtsspezifische Diskrepanz zu verstehen, „außerhalb der Ökonomik schauen muss“, würden feministische Ökonom_innen lieber die ganze Disziplin um eine Analyse erweitert sehen, warum genderbasierte Unterschiede in wirtschaftlichen Ergebnissen existieren. Feministische Ökonom_innen beziehen Erkenntnisse aus vielen anderen Feldern in ihre Analysen über das Wie und Warum der ökonomischen Unterschiede nach Gender mit ein. Zum Beispiel schauen sie auf Erkenntnisse aus der Psychologie, Soziologie, Geschichte, Demographie und Politikwissenschaft, um die Tatsache zu erklären, dass mehr Frauen als jemals zuvor Teil der bezahlten Arbeiterschaft sind, oder um die Relevanz der Pille, die feministische Bewegung oder die Ausrichtung bestimmter Politikansätze zu untersuchen. Häufig nutzen feministische Ökonom_innen die Analyse von Machtbeziehungen, um wirtschaftliche Phänomene erklären zu können. In diesem Fall kann die Tatsache, dass heute mehr Frauen in entwickelten Ländern bezahlter Arbeit nachgehen zum Teil damit erklärt werden, dass ihre Männer und/oder ihre Väter sie nicht mehr auf rechtlichem Wege davon abhalten können. Die feministische Ökonomik setzt sich für einen interdisziplinäreren Ansatz ein, um ökonomische Phänomene zu beobachten und zu analysieren. Ein solcher Ansatz scheint – wenn man das Lehrbuch von Samuelson und Nordhaus liest – im Mainstream der Disziplin nicht erwünscht zu sein, obwohl er uns helfen könnte, ökonomische Prozesse zu verstehen.

Plädoyer der feministischen Ökonomik für mehr Offenheit in der Ökonomie

Erkenntnisse und Methoden aus anderen Disziplinen zu ignorieren, führt dazu, dass Ökonom_innen ihre Modelle kaum anpassen können, um die Realität besser abzubilden. Die feministische Ökonomik vertritt zudem eine kritische Haltung gegenüber den Annahmen, die über ökonomische Akteur_innen oder Agent_innen gemacht werden. Sie scheinen mit ihren Präferenzen geboren zu sein, da sie sich mühelos eine Identität bilden und ihren Nutzen maximieren können. Obwohl also persönliche Entwicklung einen Großteil menschlicher Erfahrung darstellt und diese die ökonomischen Umstände einer Person beeinflusst, wird sie in der VWL nicht behandelt. Ein anderer Kritikpunkt feministischer Ökonom_innen betrifft die vorherrschende Akzeptanz von mathematischen Formeln und Ökonometrie als einzig angemessener Methodologie, um Fragen in der VWL zu beantworten – wie an dem oben diskutierten Beispiel von „Ökonomik und Identität“ deutlich geworden ist. Wie Nelson sagt, ist „die Qualität einer Methode primär durch ihre mathematische Stringenz definiert“ (Nelson 1995, S. 138).

Die Kritik an der Exklusivität der Methode, der Art der Agent_innen und des Analysebereichs der VWL kommt nicht nur von Seiten der feministischen Ökonomik. Andere heterodoxe Theorieströmungen haben ähnliche Bedenken in Bezug auf den Mainstream der Disziplin. Ein besonderer Beitrag der feministischen Ökonomik ist, dass diese Themen in gegenderten, geschlechtlich differenzierten Begriffen verstanden werden können. Wie Nelson (1995, S. 133) herausstellt, können die Eigenschaften der Modelle, Methoden und Agent_innen der VWL so beschrieben werden, dass sie nach „Objektivität, Separation, logischer Konsistenz, individueller Leistung, Mathematik, Abstraktion und dem Fehlen von Emotionen“ streben – Eigenschaften, die typischer Weise mit Maskulinität in Verbindung gebracht werden. Zur Klarstellung: Diese Assoziationen beziehen sich nicht auf den Mann, sondern auf die soziale Konstruktion des Ideals von Maskulinität. Es sind keine Beschreibungen von Gender, die von Feminist_innen oder feministischen Ökonom_innen unterstützt werden, sondern sie existieren in sozialen Beziehungen. Die Eigenschaften, die häufig mit Femininität assoziiert werden, etwa Subjektivität, Emotionalität und interpersonelle Verbundenheit, sind in manchen anderen Bereichen der Sozialwissenschaften willkommen und gewollt, während die VWL solche Charakteristika für ihre eigenen Modelle, das Verständnis der Agent_innen und ihre Methoden entschieden ablehnt. Während die allgemeinere Kritik, dass die VWL zu engstirnig in Bezug darauf ist, was sie als gute Wissenschaft anerkennt, von unterschiedlichen heterodoxen oder pluralistischen Denkschulen geteilt wird, bieten feministische Ökonom_innen auch eine genderspezifische Sichtweise auf die Bewertung von Ansätzen, die von Ökonom_innen genutzt werden, in ihrem Versuch, die Welt zu verstehen. Es ist hilfreich, die Disziplin in diesen gegenderten Begriffen zu verstehen, wenn wir erkennen, dass Phänomene mit „maskulinen“ Eigenschaften mehr Glaubwürdigkeit oder Akzeptanz erfahren als „feminine“. Durchsetzungskraft, Risikobereitschaft und Führungsqualitäten – maskuline Eigenschaften – werden auf dem Arbeitsmarkt häufig belohnt, während feminine Eigenschaften wie Empathie oder Sorge nicht auf ähnliche Art und Weise wert geschätzt (sprich: bezahlt) werden. Soziale Erwartungen und Regeln geben vor, dass maskuline Eigenschaften mehr wert sind. Dieser Gender Bias in der Beurteilung kann Ökonom_innen darin beeinflussen, was und wie sie Wirtschaft analysieren. Exklusiv bei der Methode, den Agent_innen und dem Analysebereich zu sein, ist gefährlich, da es zu einem zu engen Verständnis von Wirtschaft beiträgt, das uns dazu verleitet, grundlegende Entwicklungen zu verkennen.

Zu guter Letzt stellt die Analyse von Ungleichheit ein wichtiges Element der feministischen Ökonomik dar. Es ist nicht überraschend, dass feministische Ökonomik sich mit Ungleichheit beschäftigt; ein Grundbaustein feministischen Denkens ist, dass alle Menschen die gleichen politischen, ökonomischen und sozialen Rechte haben sollten. In ihrem Streben nach „Objektivität“ entscheiden sich Ökonom_innen wie Samuelson und Nordhaus dazu, keinen normativen Standpunkt zu Themen wie Fairness und Gleichheit einzunehmen. Stattdessen sagen die Autoren, dass dies „politische Fragen [sind], die in unseren demokratischen Gesellschaften nur auf dem Umweg über die Wahlurnen zu beantworten sind“ (SNa, S. 39; SNb, S. 76). Die feministische Ökonomik kritisiert diesen Standpunkt, indem sie konstatiert, dass ökonomische Strukturen politische Entscheidungen beeinflussen können und dass die Mainstream-Ökonomik, wie sie von Samuelson und Nordhaus präsentiert wird, eben nicht so neutral ist, wie sie behauptet, oder wie sie den Anschein macht, gedacht zu sein.

Viele der Erkenntnisse der feministischen Ökonomik können uns helfen, ökonomische Prozesse zu verstehen. Dies zeigt uns leider, dass der momentane Mainstream der VWL viele ökonomische Phänomene nicht adäquat erklären kann. Aber anstatt nur zu kritisieren und dann das Weite zu suchen, ist das Ziel der feministischen Ökonomik, die Disziplin zu befähigen, noch mehr darüber aussagen zu können, wie wertvolle Ressourcen produziert und verteilt werden. Eine Analyse von Gender in der Wirtschaft zeigt, dass die feministische Ökonomik helfen kann, die VWL zu einem Feld zu entwickeln, das seinen erklärten Zielen gerecht wird.

 

Literatur

Akerlof, G.A./Kranton, R.E. (2000): Economics and Identity. In: The Quarterly Journal of Economics 115, Nr. 3, S. 715–753.

Nelson, J.A. (1995): Feminism and Economics. In: Journal of Economic Perspectives 9, Nr. 2, S. 131–148.

1Dieser Beitrag wurde auf Basis der englischsprachigen Ausgabe von Samuelson/Nordhaus verfasst und aus dem Englischen übersetzt. Er enthält Verweise zu den Textpassagen der deutschen Ausgabe. Die Zitate können im Wortlaut von den Übersetzungen der deutschsprachigen Ausgabe abweichen.

 

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